Ein ganz normaler Tag.
Der Himmel ist wolkenverhangen und wie der trübe Dunst den Blick auf das
Wesentliche
verklärt, beginnt die Zeit mir Ihrer Arbeit des linearen Vergehens.
Am Bahnsteig auf der anderen Seite der Gleise sitzt eine alte Frau.
Die Menschen auf dieser und jener Seite der Gleise wirken zielstrebig, als ob
sie
wüßten wohin sie der Weg an diesem Tage führen würde.
Bei all dem Streß und der Hektik, die das Erreichen des Tageszieles mit
sich führt, sind die
Menschen verstummt, scheinen in Gedanken versunken. Vielleicht überlegen
sie sich
was sie dort machen werden, wie lange die Reise dauert.
Vielleicht machen sie sich Gedanken über
die Unbequemlichkeiten, die das Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln
mit sich bringt.
Ich frage mich, ob diese Menschen jemals ankommen, ob sie, haben sie ihr
erklärtes Ziel erreicht,
nicht schon wieder auf der Reise sind.
Wir alle sind auf einer Reise, auf einer Reise durch das Leben. Ich glaube nicht
an die Linearität der Zeit. Schließe ich meine Augen so erscheinen
Bilder. Bilder die mit längst
Vergangenem verbunden sind.
Diese Bilder haben seit ihrer kurzen Verweildauer im Zeitfenster unserer
wahrnehmensbedingten
Gegenwart ihr Gesicht verändert, immer und immer wieder. Ich glaube die
flexible Stabiltät dieser
Erfahrungen und Eindrücke ist der Grund dafür, daß ich mir ein
Bild machen kann,
von der Welt von meinen Zielen, von mir. Während ich mir so meine Gedanken
mache, bewege ich
mich durch Zeit und Raum. Ich bin frei in meinen Gedanken. Ich öffne meine
Augen und meine
innere Realität, in der
die Dimensionen Raum und Zeit wie Farben ineinandergeflossen waren, öffnet
sich
meiner sinnlichen Realität, die selbst in Bälde verschwimmen wird und
nur
ein Auszug dessen ist, was sich
aus der Gesamtheit in meinem Inneren sammeln darf. Mir wird bewußt,
gäbe es keine Trägheit, so gäbe es keine äußere
Realität, da Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nahtlos ineinander
übergingen. Es gibt nur innere Realität deren Stabilität
das Trugbild der Existenz einer äußern am Leben erhält.
Was erdreiste ich mich zu glauben die Menschen um mich herum hätten keine
Ziele?
Der hektische Mann mit seinem Aktenkoffer möchte zurück
zu seiner geliebten Frau, der Obdachlose, der neben mir auf der Bank sitzt,
sucht in Gedanken nach seinem Leben, alles bewegt sich.
Daß sich alles Bewegt, das ist Zeit! Der Mensch der an mir
vorbeiläuft
bewegt sich ebenso wie sich die Bilder in meinem Kopf bewegen.
Zeit existiert nur, weil nie alle Dinge zu unterschiedlichen Zeitpunkten
am selben Ort sein können. Brauche ich die Zeit um die Zeit zu
erklären?
Auch der Raum scheint nicht tauglich, um das Phänomen der Zeit zu
erklären,
denn ohne die Zeit wäre er ein Punkt ohne jegliche räumliche
Dimension.
Ich starre auf die Pflastersteine entlang der Bahngleise.
Die verändern, bewegen sich nicht. Haben Steine keine Zeit? Vielleicht kann
ich die Veränderung nicht sehen und dennoch haben sie sich verändert.
Sie haben sich verändert, weil ich mich verändert habe,
weil meine Gedanken sich auf den Weg gemacht haben, weil mein Körper
gelebt hat.
Zeit, Raum und Leben erscheinen mir wie wechselseitig verwobene Variablen
desselben
Spiels.
Macht man sich auf nach der einen zu greifen entgleitet die andere aus unseren
Händen aus unserem Kopf. Vielleicht ist es völlig absurd,
sich die Frage nach der Zeit oder dem Leben zu stellen, denn wir müssen
Leben um uns über das Leben Gedanken zu machen und wir brauchen
die Zeit um die Zeit zu erklären, wir brauchen Liebe um uns selbst
zu erklären wie sich Liebe anfühlt. Alles verweist auf sich
selbst zurück. Die einzige Erklärung kann also lauten:
das Geheimnis von Zeit, Raum und dem Leben zu ergründen
kann uns nur gelingen, wenn wir nicht mehr an dieselben gebunden sind.
Wie kann man mit einer solchen Antwort zufrieden sein?
Läßt sie uns nicht in einem Zustand der Sinnleere zurück?
Offensichtlich entfaltet sich also Sinn nicht in der Frage nach
dem Leben oder der Zeit, sondern in der Frage nach der Zufriedenheit
auf diese Fragen keine Antworten finden zu können!
Ich schaue wieder hinüber auf die andere Seite der Gleise.
Alles hat sich verändert nur die alte Frau sitzt noch immer
auf ihrem Platz auf der Bank und scheint jeden der hektisch an ihr
vorbeizieht lächelnd zu begrüßen. Erst jetzt sehe ich,
daß sie einen weißen Stock in ihrer Hand hält und sich
an ihrem Arm eine Blindenbinde befindet. Jedem, der an ihr vorübergeht,
schenkt sie ein Lachen.
Die anderen Leute auf der anderen Seite der Gleise lachen nicht.
Vermutlich haben sie keine Zeit.